(German special-interest, therefore in German)
Heiner Flassbeck, ex-Staatssekretär unter Lafontaine, rechnet in seinem Buch "Gescheitert" mit der deutschen Wirtschaftspolitik ab. Neben einer Menge durchaus sinnvoller und durchdachter Argumente vertritt er eine zentrale These, die ich beim besten Willen nicht nachvollziehen kann:
Wenn die Tarifparteien in den letzten 10-20 Jahren stärkere Lohnerhöhungen vereinbart hätten, dann hätten wir laut Flassbeck jetzt nicht nur einen geringeren Außenhandelsüberschuß, sondern auch eine sehr viel dynamischere Wirtschaftsentwicklung und weniger Arbeitslose. Das Fordern und Praktizieren von Lohnzurückhaltung sei der Kardinalfehler schlechthin von Politik und Gewerkschaften gewesen, und würde zeigen, daß diese von Volkswirtschaft im Gegensatz zu Flassbeck keine Ahnung hätten.
Das mit dem Außenhandelsüberschuß ist klar: Wenn die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands ggü. den andere Euro-Ländern sinkt, weil die Löhne hier stärker steigen, dann sinken die Exporte und steigen die Importe. Also weniger Außenhandelsüberschuß.
Aber mit der Behauptung, die deutsche Wirtschaft wäre dadurch dynamischer geworden, habe ich ein Problem: Wieso bitte sollte das so sein?
Es gibt bei Lohnerhöhungen zwei Möglichkeiten:
1. Im Extremfall werden die Löhne voll übergewälzt, und alle anderen Preise in der Volkswirtschaft passen sich entsprechend an, so daß nominal alles entsprechend teurer wird. In diesem Fall passiert in einer geschlossenen Volkswirtschaft gar nichts. In einer offenen VW mit fixen Wechselkursen sinken die Exporte und steigen die Importe. Dies führt zu weniger lokaler Produktion und sinkender Wirtschaftsleistung. Das Gegenteil von dem, was Flassbeck behauptet.
2. Aber Flassbeck geht ja davon aus, daß keine vollständige Überwälzung erfolgt, sondern die Reallöhne steigen. Ob bzw. inwieweit das stimmt, könnte man durchaus diskutieren. Flassbeck tut dies aber nicht, sondern scheint es für völlig selbstverständlich zu halten. Nun gut, folgen wir ihm bei dieser Annahme. In diesem Fall passiert folgendes:
- Die Arbeitnehmer haben ein höheres Realeinkommen und erhöhen ihren Konsum.
- Die Kapitaleigner haben ein niedrigeres Realeinkommen und senken ihren Konsum.
- Es ist zu vermuten, daß Kapitaleigner im Durchschnitt eine höhere Sparquote haben als Arbeitnehmer, der Konsum wird also unterm Strich etwas zunehmen.
- Gleichzeitig sinkt die internationale Wettbewerbsfähigkeit: Die Exporte sinken, die Importe steigen.
- Ausserdem wird es für deutsche Firmen attraktiver, Produktion ins Ausland zu verlagern, und für ausländische Firmen unattraktiver, in Deutschland zu produzieren. Auch längerfristig sinkt damit die Produktionskapazität in Deutschland.
Wir haben also insgesamt zwei gegenläufige Effekte: Etwas mehr Konsumnachfrage durch Umverteilung von Kapital zu Arbeit (was tendenziell ähnlich ist zu einer Umverteilung von "oben" nach "unten"), und eine verschlechterte internationale Wettbewerbsfähigkeit, die sich mittelfristig durch Produktionsverlagerungen noch verstärkt.
Wieso sich Flassbeck so sicher ist, daß der Umverteilungseffekt überwiegt, bleibt sein Geheimnis.
Schauen wir uns ein paar Zahlen an:
Erhöht man z.B. die Löhne um 5 %, und geht man davon aus, daß nur 3 % "übergewälzt" werden, die Kaufkraft also um 2 % steigt. Diese 2 % wären also eine Art Umverteilung hin zu den Arbeitnehmern. Wenn z.B. deren Sparquote um 10 Prozentpunkte niedriger ist als die der Kapitaleigner, würde dies die Konsumnachfrage um 0,2 % der Lohnsumme erhöhen, also um erheblich weniger als 0,2 % des gesamten Konsums.
Ich würde mal davon ausgehen, daß eine Erhöhung der deutschen Löhne um 5 % die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft in einem Maße senkt, daß der Außenbeitrag um mehr als 0,2 % zurückgeht. Der Nettoeffekt wäre dann negativ.
(Möglicherweise argumentiert Flassbeck implizit anders: Vielleicht denkt er, daß die Lohnerhöhung vorab erfolgt und sofort konsumwirksam wird. Der Effekt für die Kapitaleigner tritt dagegen erst mit Zeitverzögerung beim nächsten Bilanzstichtag ein, so daß sie ihren Konsum zunächst nicht senken. In diesem Fall würde der Konsum um bis zu 2 % der Lohnsumme steigen (im Extremfall von Sparquote = 0). Das würde dann zusätzliche Produktion auslösen, und damit auch zusätzliche Arbeitsnachfrage. Eine Positivspirale kommt in Gange. Aber warum bitte soll das so sein? Warum sollten die Kapitaleigner nicht antizipieren, daß für sie weniger übrig bleibt, und ihren Konsum entsprechend nach unten anpassen? Schließlich sind Unternehmer doch davon überzeugt, daß höhere Löhne schädlich sind. Insofern würden sie doch automatisch davon ausgehen, daß höhere Löhne den Wert ihrer Unternehmen senken. Was ja auch plausibel ist, da sie ja sowohl durch Umverteilung als auch durch geringere Konkurrenzfähigkeit am Weltmarkt unter Druck gerieten...)
Nun kann man durchaus der Meinung sein, daß der Außenbeitrag weniger hoch sein sollte, das Deutschland mit anderen Worten mehr von seiner Wirtschaftsleistung selbst konsumieren sollte. Dies kann durch Lohnerhöhungen durchaus erzielt werden.
Ggf. würde man dadurch tatsächlich den momentanen Lebensstandard in Deutschland etwas steigern, da ja mehr von der Wirtschaftsleistung konsumiert wird, anstelle Forderungen ggü. dem Ausland aufzubauen.
Aber die Behauptung, daß dadurch gleichzeitig auch die Wirtschaftsleistung steigt und die Arbeitslosigkeit sinkt, ist durch nichts belegt und m.E. ausgesprochen unwahrscheinlich. Sie wäre allenfalls plausibel (und auch dann nur in ziemlich geringem Maße), wenn man von sehr starker Konsumsteigerung durch die Umverteilung ausginge (d.h. die marginale Sparquote der Arbeitnehmer ist sehr viel kleiner als die der Unternehmer), und gleichzeitig von eher schwachen Effekten in Bezug auf Außenhandel und Produktionsverlagerung.
Insofern mag zwar durchaus richtig sein, daß in den letzten Jahren in Deutschland zuviel gespart und zuwenig investiert und konsumiert wurde. Mehr Konsum und weniger Ersparnis hätten wohl durchaus mehr Wachstum ermöglicht. Durch staatlich verordnete stärkere Nominallohnsteigerungen hätte man dieses Ziel aber nicht erreicht.
Auch Flassbecks "empirisches Argument", daß die Löhne in vielen anderen Ländern dynamischer gestiegen sind, und diese Länder auch stärker gewachsen sind, beweist gar nichts: Zunächst ist es "Henne vs. Ei", denn die Löhne sind dort ja vielleicht gestiegen, weil das Wachstum höher war, nicht umgekehrt (das widerspricht nicht der richtigen Flassbeckschen Beobachtung, daß in den meisten Euro-Ländern die Lohnstückkosten stärker gewachsen sind als in Deutschland: Wenn z.B. in Spanien die Immobiliennachfrage so stark steigt, daß dies die ganze Wirtschaft mitzieht, dann können durchaus die Löhne steigen, weil die Nachfrage in Spanien hoch ist. Aber es besteht kein klarer Kausalzusammenhang, daß höhere spanische Löhne das spanische Wachstums verursacht haben). Und speziell was die USA betrifft, das westliche Land mit den höchsten Wachstumsraten, so ist ohnehin altbekannt daß die Reallöhne der Unter- und Mittelschicht dort schon seit Jahrzehnten stagnieren.
Sorry, Herr Flassbeck, nicht überzeugend.